BGH v. 27.11.2024 - XII ZB 164/24
Keine geschlossene Unterbringung eines Minderjährigen bei im Schwerpunkt pädagogischen Defiziten
Die geschlossene Unterbringung eines Minderjährigen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist auch bei vorliegenden Anzeichen für eine psychische Störung unverhältnismäßig, wenn bei dem Minderjährigen im Schwerpunkt pädagogische Defizite bestehen, die nur die Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung rechtfertigen. Das gilt auch bei Fehlen eines (regionalen) Angebots an geeigneten Jugendhilfeeinrichtungen. Erfordert das vor Genehmigung einer Unterbringung stets einzuholende Sachverständigengutachten eine stationäre diagnostische Abklärung, kann das Familiengericht unter den Voraussetzungen des § 284 FamFG die Unterbringung des Minderjährigen zur Begutachtung anordnen.
Der Sachverhalt:
Der betroffene Jugendliche wurde im August 2008 als Sohn der seinerzeit fünfzehnjährigen Kindesmutter, der Beteiligten zu 3) in Ungarn geboren. Er lebte zeitweilig bei seinem Vater in Ungarn, der inzwischen Suizid beging. Für den Betroffenen ist nach teilweiser Entziehung der elterlichen Sorge der Beteiligte zu 2) seit 2019 als Ergänzungspfleger für die Gesundheitssorge sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten bestellt. Nach zahlreichen Inobhutnahmen und Unterbringungen in Jugendhilfeeinrichtungen sowie zunehmendem Schulabsentismus des Betroffenen haben seine Mutter und der Ergänzungspfleger die Genehmigung seiner Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie beantragt.
Das AG bestellte eine Verfahrensbeiständin, holte ein Sachverständigengutachten ein und hörte den Betroffenen und seine Mutter an. Es genehmigte mit Beschluss vom 1.3.2024 die freiheitsentziehende Unterbringung des Betroffenen in einer psychiatrischen Klinik bis 31.5.2024. Der Betroffene wurde am 6.3.2024 einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zugeführt. Das OLG wies die Beschwerde des Betroffenen nach dessen Anhörung durch den Berichterstatter und anschließender Einholung von ergänzenden Stellungnahmen der Klinik und des beteiligten Jugendamts mit Beschluss vom 26.3.2024 zurück. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen stellte der BGH fest, dass die Beschlüsse von AG und OLG den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Die Gründe:
§ 1631 b Abs. 1 BGB ermöglicht allgemein die mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung eines betroffenen Kindes, ohne die Einrichtungsart festzulegen. In Betracht kommen grundsätzlich Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Jugendhilfe. Im Rahmen der Jugendhilfe ist die mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung als Hilfe zur Erziehung (§§ 27, 34 SGB VIII) oder Hilfe zur Eingliederung möglich, was grundsätzlich eine Bewilligung der entsprechenden Jugendhilfeleistung und in diesem Zusammenhang die Aufnahmebereitschaft der jeweiligen Einrichtung voraussetzt. Demgegenüber sind Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie unter bestimmten Voraussetzungen zur Aufnahme verpflichtet (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Jugendhilfeeinrichtungen unterscheiden sich mit ihrem vorwiegend pädagogischen Ansatz sowohl in struktureller Hinsicht als auch bzgl. der Eingriffsintensität von der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie als medizinische Einrichtung zur Vorbeugung, Diagnostik und Behandlung von psychischen, psychosomatischen und neurologischen Störungen. Kommen mehrere Formen der geschlossenen Unterbringung in Betracht, muss die Erforderlichkeit der Unterbringung bezogen auf die konkret angeordnete Unterbringungsart festgestellt werden.
Die Genehmigung der Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als Sonderform der psychiatrisch-medizinischen Behandlung setzt grundsätzlich eine entsprechende medizinische Indikation voraus. Liegt eine solche nicht vor, so wird es bereits an der Geeignetheit der Maßnahme fehlen und besteht für eine Unterbringung regelmäßig keine Grundlage. Erfordert das vor Genehmigung einer Unterbringung nach §§ 167 Abs. 1 Satz 1, 321 FamFG stets einzuholende Sachverständigengutachten zunächst eine stationäre diagnostische Abklärung, kann das Familiengericht gem. §§ 167 Abs. 1 Satz 1, 322, 284 FamFG die Unterbringung des Minderjährigen zur Begutachtung anordnen.
Ohne vorliegende medizinische Indikation ist die Genehmigung der Unterbringung zur Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie rechtswidrig. Ist die Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht zulässig, so ändert sich nichts dadurch, dass es (regional) an geeigneten und aufnahmebereiten Jugendhilfeeinrichtungen für eine freiheitsentziehende Unterbringung fehlt. Denn das Fehlen derartiger von den Trägern der Jugendhilfe im Rahmen ihrer gesetzlichen Gesamtverantwortung nach § 79 Abs. 1 SGB VIII bereitzustellenden Einrichtungen darf nicht dazu führen, dass Minderjährige in einer für ihre spezifischen Defizite unzureichend geeigneten Einrichtung geschlossen untergebracht werden. Auch einer Unterbringungsgenehmigung für eine Übergangsfrist, etwa um dem Sorgeberechtigten Zeit zu geben, für den Betroffenen eine Jugendhilfeeinrichtung zu finden, fehlt die Rechtsgrundlage. Liegt bei dem Betroffenen zwar eine psychische Störung vor, rechtfertigt diese aufgrund ihres gegenüber zugleich vorliegenden pädagogischen Defiziten geringeren Schweregrades aber nicht die stationäre Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sondern allenfalls eine von ambulanter Therapie begleitete Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung, so ist auch dann die geschlossene Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie unzulässig. Selbst wenn in einem solchen Fall keine geeignete Jugendhilfeeinrichtung zur Verfügung steht und die Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gegenüber der Rückkehr in den elterlichen Haushalt sogar die für das Kindeswohl bessere Alternative darstellen würde, ist diese Form der Unterbringung mit Rücksicht auf den hohen Rang des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG unverhältnismäßig (im engeren Sinne) und darf nicht genehmigt werden.
Bei Anlegung dieser Maßstäbe war die Unterbringung des Betroffenen auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht genehmigungsfähig.
Mehr zum Thema:
Kommentierung | BGB
§ 1631b Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen
Döll in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Kommentierung | FamFG
§ 167 Anwendbare Vorschriften bei Unterbringung Minderjähriger und bei freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Minderjährigen
Hammer in Prütting/Helms, FamFG, Kommentar, 6. Aufl. 2023
6. Aufl./Lfg. 09.2022
Kommentierung | FamFG
§ 284 Unterbringung zur Begutachtung
Fröschle in Prütting/Helms, FamFG, Kommentar, 6. Aufl. 2023
6. Aufl./Lfg. 09.2022
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