BGH v. 6.11.2024 - XII ZB 368/24
Zur Überlassung des eingeholten Sachverständigengutachtens an Minderjährigen im Unterbringungsverfahren
In Verfahren, welche die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Kindes betreffen, welches das 14. Lebensjahr vollendet hat, ist das nach § 321 Abs. 1 FamFG eingeholte Sachverständigengutachten mit seinem vollen Wortlaut dem betroffenen Kind im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit (§ 167 Abs. 3 FamFG) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern (im Anschluss an BGH v. 9.10.2024 - XII ZB 253/24). Von der Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens kann in diesen Verfahren auch unter den Voraussetzungen des § 164 Satz 2 FamFG abgesehen werden. Dem betroffenen Kind ist dann jedoch der Inhalt des Gutachtens entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand durch den Verfahrensbeistand mitzuteilen (s.o.).
Der Sachverhalt:
Die im August 2007 geborene Betroffene wendet sich gegen die familiengerichtliche Genehmigung ihrer Unterbringung.
Die in den Jahren 2015/2016 mit ihrer Familie aus dem Irak in die Bundesrepublik gekommene Betroffene wurde am 16.4.2024 vor dem Hintergrund familiärer Gewalterfahrungen nach der Äußerung von Suizidgedanken in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik aufgenommen. Mit Beschluss vom 18.4.2024 entzog das AG im Wege einstweiliger Anordnung den Kindeseltern (Beteiligte zu 2) und 3)) die elterliche Sorge und bestellte das Jugendamt (Beteiligter zu 4)) zum Amtsvormund für die Betroffene. Ebenfalls durch einstweilige Anordnungen genehmigte das AG die sechswöchige Unterbringung der Betroffenen bis zum 29.5.2024 und daran anschließend bis zum 8.7.2024. Im vorliegenden Hauptsacheverfahren beantragte der Amtsvormund schriftlich, die familiengerichtliche Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen über den 8.7.2024 hinaus zu verlängern.
Das AG bestellte eine Verfahrensbeiständin (Beteiligte zu 1)), ordnete die Einholung eines Sachverständigengutachtens an und hörte nach Eingang des Gutachtens die Betroffene in Anwesenheit der Verfahrensbeiständin persönlich an. Mit Beschluss vom 4.7.2024 genehmigte das AG die Unterbringung der Betroffenen in "einer geschlossenen Einrichtung einer psychiatrischen Klinik" bis zum 25.9.2024 familiengerichtlich. Das OLG wies die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen zurück. Mit ihrer Rechtsbeschwerde wendet sich die Betroffene weiterhin gegen die Genehmigung ihrer Unterbringung.
Der BGH gewährte der Betroffenen gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und stellte auf ihre Rechtsbeschwerde fest, dass die Beschlüsse von AG und die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Die Gründe:
Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung der Betroffenen am 1.7.2024 verfahrensfehlerhaft war, weil ihr vor der Anhörung das Sachverständigengutachten nicht überlassen worden ist.
Bei Verfahren, welche die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB betreffen (§ 151 Nr. 6 FamFG), sind gem. § 167 Abs. 1 Satz 1 FamFG die für Unterbringungssachen Volljähriger nach § 312 Nr. 1 und 2 FamFG geltenden Vorschriften anwendbar. Nach § 319 Abs. 2 Satz 1 FamFG in der seit dem 1.1.2023 geltenden Fassung erörtert das Gericht in der Anhörung mit dem Betroffenen u.a. das Ergebnis des übermittelten Gutachtens. Daraus folgt, dass dem Betroffenen bereits rechtzeitig vor der Anhörung die Möglichkeit gegeben werden muss, persönlich Kenntnis von dem nach § 321 FamFG eingeholten Sachverständigengutachten zu nehmen. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Geschieht dies nicht, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG. Im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit Minderjähriger, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, gelten diese Grundsätze auch in Verfahren, welche die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen entsprechenden Alters nach § 1631 b BGB betreffen.
Nach der Rechtsprechung des Senats kann von der vorherigen Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Macht das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe des Gutachtens die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, muss ein Verfahrenspfleger bestellt, diesem das Gutachten übergeben werden und die regelmäßig auf einen entsprechenden gerichtlichen Hinweis gegründete Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht. Nichts Anderes gilt in Verfahren, welche die familiengerichtliche Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB betreffen. Zwar kann in diesen Verfahren auch unter den Voraussetzungen des § 164 Satz 2 FamFG von der Bekanntgabe des Gutachtens abgesehen werden, wenn dadurch nämlich Nachteile für die Entwicklung, Erziehung oder Gesundheit des Kindes zu befürchten sind. Dem Kind ist dann jedoch das Gutachten entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand durch den Verfahrensbeistand mitzuteilen, damit es sich auf den Anhörungstermin vorbereiten kann.
Diesen Anforderungen wird das Verfahren des AG nicht gerecht. Eine Übersendung des unter dem 24.6.2024 erstatteten Sachverständigengutachtens ist nach der richterlichen Verfügung vom 29.6.2024 nicht an die Betroffene, sondern nur an die Verfahrensbeiständin erfolgt. Zwar ergibt sich aus dem Anhörungsprotokoll, dass auch der Inhalt des Sachverständigengutachtens Gegenstand der Anhörung der Betroffenen durch die Familienrichterin am 1.7.2024 gewesen ist. Es genügt indessen nicht, dass das Gericht dem Betroffenen im Rahmen der Anhörung wie hier lediglich den wesentlichen Inhalt eines in den Gerichtsakten befindlichen Sachverständigengutachtens bekannt gibt und diesen dann mit ihm erörtert. Denn ohne rechtzeitige vorherige Kenntnis des Gutachtens im vollen Wortlaut wird dem Betroffenen die effektive Möglichkeit genommen, sich auf den Anhörungstermin ausreichend vorzubereiten und durch die Erhebung von Einwendungen und durch Vorhalte an den Sachverständigen eine andere Einschätzung zu erreichen.
Mehr zum Thema:
Kommentierung | FamFG
§ 164 Bekanntgabe der Entscheidung an das Kind
Hammer in Prütting/Helms, FamFG, Kommentar, 6. Aufl. 2023
6. Aufl./Lfg. 09.2022
Kommentierung | FamFG
§ 167 Anwendbare Vorschriften bei Unterbringung Minderjähriger und bei freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Minderjährigen
Hammer in Prütting/Helms, FamFG, Kommentar, 6. Aufl. 2023
6. Aufl./Lfg. 09.2022
Kommentierung | FamFG
§ 321 Einholung eines Gutachtens
Roth in Prütting/Helms, FamFG, Kommentar, 6. Aufl. 2023
6. Aufl./Lfg. 09.2022
Kommentierung | BGB
§ 1631b Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen
Döll in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Rechtsprechung (siehe Leitsätze)
Beschluss
BGH vom 09.10.2024 - XII ZB 253/24
Kurzbeitrag
BGH: Überlassung des eingeholten Sachverständigengutachtens an Minderjährigen im Unterbringungsverfahren
FamRB 2025, R5
FAMRB0073952
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