Otto Schmidt Verlag

BGH v. 9.10.2024 - XII ZB 253/24

Unterbringung eines Minderjährigen: Sachverständigengutachten ist Betroffenem vor Anhörungstermin zu überlassen

In Verfahren, die die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Kindes betreffen, welches das 14. Lebensjahr vollendet hat, ist das nach § 321 Abs. 1 FamFG eingeholte Sachverständigengutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit (§ 167 Abs. 3 FamFG) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Von der Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens kann in diesen Verfahren unter den Voraussetzungen des § 164 Satz 2 FamFG abgesehen werden. Dem Kind ist dann jedoch der Inhalt des Gutachtens entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand durch den Verfahrensbeistand mitzuteilen (im Anschluss an BGH v. 18.7.2012 - XII ZB 661/11, FamRZ 2012, 1556).

Der Sachverhalt:
Die im Januar 2009 geborene Betroffene wendet sich gegen die familiengerichtliche Genehmigung ihrer Unterbringung bis längstens 6.3.2025.

Mit einem an das AG als Betreuungsgericht gerichteten Schreiben vom 28.11.2023 beantragte die Mutter der Betroffenen die Genehmigung einer Unterbringung ihrer Tochter in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses. Mit Beschluss vom 7.3.2024 genehmigte das AG - Familiengericht - gem. § 1631 b Abs. 1 BGB die Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Abteilung einer intensivpädagogischen und therapeutischen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe bis längstens 6.3.2025.

Nach Anhörung der Betroffenen wies das OLG deren Beschwerde zurück. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

Der BGH bewilligte der Betroffenen als Beschwerdeführerin für das Verfahren der Rechtsbeschwerde ratenfreie Verfahrenskostenhilfe und ordnete einen Rechtsanwalt bei. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung der Betroffenen am 6.3.2024 verfahrensfehlerhaft gewesen ist, weil ihr das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor der Anhörung überlassen worden ist.

Bei Verfahren, die die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB betreffen (§ 151 Nr. 6 FamFG), sind gem. § 167 Abs. 1 Satz 1 FamFG die für Unterbringungssachen Erwachsener nach § 312 Nr. 1 und 2 FamFG geltenden Vorschriften anwendbar. Nach § 319 Abs. 2 Satz 1 FamFG in der seit dem 1.1.2023 geltenden Fassung erörtert das Gericht in der Anhörung mit dem Betroffenen u.a. das Ergebnis des übermittelten Gutachtens. Daraus folgt, das dem Betroffenen bereits rechtzeitig vor der Anhörung die Möglichkeit gewährt werden muss, persönlich Kenntnis vom Inhalt des nach § 321 FamFG eingeholten Sachverständigengutachtens zu nehmen.

Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats für das bis zum 31.12.2022 geltende Recht, wonach die Verwertung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraussetzt, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern (vgl. BGH v. 22.3.2023 - XII ZB 498/22, FamRZ 2023, 1234). Im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit Minderjähriger, die das 14. Lebensjahr vollendet haben (§ 167 Abs. 3 FamFG), gilt dies auch in Verfahren, die die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen entsprechenden Alters nach § 1631 b BGB betreffen.

Nach der Rechtsprechung des Senats kann von der vorherigen Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Macht das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, muss ein Verfahrenspfleger bestellt, diesem das Gutachten übergeben werden und die Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht. Letzteres setzt in der Regel einen entsprechenden gerichtlichen Hinweis an den Verfahrenspfleger voraus.

Nichts Anderes gilt in Verfahren, die die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB betreffen. Zwar kann in diesen Verfahren unter den Voraussetzungen des § 164 Satz 2 FamFG ebenfalls von der Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens abgesehen werden. Dem Kind ist dann jedoch der Inhalt des Gutachtens entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand durch den Verfahrensbeistand mitzuteilen, damit dieses sich auf den Anhörungstermin vorbereiten kann. Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung
§§ 37 II, 62 II, 68 III FamFG: Rechtzeitige Überlassung von Sachverständigengutachten - Berechtigtes Interesse bei durch Zeitablauf erledigter Genehmigung einer Einwilligung
BGH vom 22.03.2023 - XII ZB 498/22
FamRZ 2023, 1234

Rechtsprechung (siehe Leitsätze)
§ 1631b BGB: Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung eines Mdj. [m. Anm. Salgo, S. 1559]
BGH vom 18.07.2012 - XII ZB 661/11
Ludwig Salgo, FamRZ 2012, 1556

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.11.2024 14:29
Quelle: BGH online

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