Otto Schmidt Verlag

BVerfG v. 9.4.2023 - 1 BvR 2017/21

Regelungen über die Vaterschaftsanfechtung durch leibliche Väter mit Elterngrundrecht unvereinbar

Die gesetzliche Regelung über das Recht des leiblichen Vaters, die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes für sein Kind anzufechten, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Sie trägt dem Elterngrundrecht leiblicher Väter nicht hinreichend Rechnung. Diese gehören zu den Eltern i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und können sich auf das Elterngrundrecht ebenso wie die rechtlichen Eltern des Kindes berufen. Die für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärte Regelung in § 1600 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 BGB über die Vaterschaftsanfechtung bleibt bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 30.6.2025, in Kraft.

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist feststehend leiblicher Vater eines 2020 nichtehelich geborenen Kindes. Mit der Mutter des Kindes führte der Beschwerdeführer eine Beziehung und lebte auch mit ihr in einem Haushalt. Nach der Trennung der Mutter von dem Beschwerdeführer hatte dieser weiterhin Umgang mit seinem Kind. Die Mutter ging eine neue Beziehung ein. Nachdem der Beschwerdeführer einen Antrag auf Feststellung seiner Vaterschaft gestellt hatte, erkannte der neue Partner der Mutter die Vaterschaft für das Kind mit ihrer Zustimmung an und ist so dessen rechtlicher Vater geworden.

Im Anfechtungsverfahren wies das OLG in zweiter Instanz den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung, er und nicht der rechtliche Vater sei Vater des Kindes, als unbegründet ab. Die Vaterschaftsanfechtung des Beschwerdeführers scheitere an der inzwischen bestehenden sozial-familiären Beziehung des neuen Partners der Mutter und rechtlichen Vaters zu dem Kind. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Elternrechts. § 1600 Abs. 2 und 3 BGB in seiner Anwendung durch das Gericht mache es ihm als leiblichem Vater unmöglich, die rechtliche Vaterschaft für das Kind zu erlangen.

Die Verfassungsbeschwerde hatte vor dem BVerfG Erfolg.

Die Gründe:
§ 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 BGB ist mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar. Da der angegriffene Beschluss des OLG auf der Anwendung dieser Regelung beruht, verletzt er den Beschwerdeführer in seinem Elterngrundrecht.

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG schützt das als solches durch den Staat zu achtende Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Dieses Grundrecht steht leiblichen Vätern von Kindern auch dann zu, wenn sie nicht deren rechtliche Väter sind. § 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 BGB trägt den Anforderungen an das Elterngrundrecht leiblicher Väter nicht hinreichend Rechnung und beeinträchtigt dieses, ohne dass dies verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Das Elterngrundrecht bedarf einer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Er kann dabei - abweichend vom bisherigen Recht im BGB - die rechtliche Elternschaft des leiblichen Vaters neben der Mutter und dem rechtlichen Vater vorsehen. Hält er dagegen an einer Beschränkung der rechtlichen Elternschaft auf zwei Elternteile fest, muss zugunsten des leiblichen Vaters ein hinreichend effektives Verfahren zur Verfügung stehen, das es ihm ermöglicht, anstelle des bisherigen rechtlichen Vaters selbst rechtlicher Vater seines Kindes zu werden. Dieses muss hinreichend effektiv sein, um dem Elterngrundrecht des leiblichen Vaters Rechnung zu tragen.

§ 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 BGB wird der Stellung leiblicher Väter als Träger des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht. Die Regelung berührt das Elterngrundrecht leiblicher Väter und beeinträchtigt dieses trotz Vereinbarkeit mit den die Struktur des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG prägenden Merkmalen unverhältnismäßig. Die genannte Regelung berührt den durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch zugunsten nur leiblicher, aber nicht rechtlicher Väter garantierten Schutz des Elternrechts, der die Möglichkeit einschließt, Elternverantwortung zu erlangen. Eine zum maßgeblichen Zeitpunkt i.S.v. § 1600 Abs. 3 Satz 1 BGB bestehende sozial-familiäre Beziehung des Kindes zu seinem rechtlichen Vater schließt nach § 1600 Abs. 2 Alt. 1 BGB die Erlangung der rechtlichen Vaterschaft durch den nur leiblichen Vater aus. Der Ausschluss greift sogar dann, wenn der leibliche Vater selbst eine sozial-familiäre Beziehung zu seinem Kind hatte oder hat oder sich frühzeitig und konstant um die rechtliche Vaterschaft bemüht hat. Da die rechtliche Vaterschaft Voraussetzung für das Innehaben des fachrechtlichen Sorgerechts mit dem rechtlichen Instrumentarium zur Wahrnehmung von Elternverantwortung ist, bleibt leiblichen Vätern bei erfolgloser Vaterschaftsanfechtung die für das Elternrecht prägende Elternverantwortung verwehrt. Das gilt auch dann, wenn eine die erste Anfechtung ausschließende sozial-familiäre Beziehung des Kindes zu seinem rechtlichen Vater später weggefallen ist. Ohne die Mitwirkung und Zustimmung Dritter, insbesondere der Mutter, ist es für einen leiblichen Vater dann nicht mehr möglich, rechtlicher Vater zu werden. Damit bleibt ihm die rechtliche Elternverantwortung dauerhaft verschlossen.

Dennoch ist § 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 BGB mit den die Struktur des Elterngrundrechts prägenden Strukturmerkmalen vereinbar. Hält der Gesetzgeber fachrechtlich an einer auf zwei Elternteile beschränkten Elternschaft fest, erfordert das Elterngrundrecht allerdings, dem zur Übernahme von Elternverantwortung bereiten leiblichen Vater grundsätzlich die rechtliche Elternschaft als Voraussetzung für die Ausübung von Elternverantwortung zu ermöglichen. Das lässt das geltende Recht (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB) im Ausgangspunkt zu. Nach Maßgabe des Fachrechts kann der leibliche Vater im Anschluss an das Erlangen der rechtlichen Vaterschaft auch (Mit-)Inhaber des Sorgerechts werden. Durch die hier zu überprüfende Einschränkung des Anfechtungsrechts leiblicher Väter verfolgt der Gesetzgeber mit den Zwecken der Statusbeständigkeit und -klarheit sowie dem Schutz der bestehenden sozialen Familie aus Kind, Mutter und rechtlichem Vater zwar verfassungsrechtlich legitime Ziele. § 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 BGB beeinträchtigt aber den leiblichen Vater - und damit auch den Beschwerdeführer - in seinem Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unverhältnismäßig.

Der angegriffene Beschluss des OLG verletzt den Beschwerdeführer in seinem Elterngrundrecht. Die Entscheidung beruht auf der Anwendung des mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbaren § 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 BGB. Das BVerfG hat die Unvereinbarkeitserklärung auf § 1600 Abs. 2 Alt. 2 BGB erstreckt; die zur Verfassungswidrigkeit von § 1600 Abs. 2 Alt. 1 BGB führenden Gründe gelten für die von § 1600 Abs. 2 Alt. 2 BGB geregelte Negativvoraussetzung des Bestehens einer sozial-familiären Beziehung des Kindes zu seinem (bisherigen) rechtlichen Vater im Zeitpunkt von dessen Tod in gleicher Weise. Die überprüften Vorschriften gelten trotz der Unvereinbarkeit mit dem Elterngrundrecht bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung durch den Gesetzgeber fort (längstens bis zum 30.6.2025), um bis dahin leiblichen Vätern auf der Grundlage des bisherigen Rechts eine Anfechtung zu ermöglichen, wenn sie diese für erfolgversprechend halten. Ist dies nicht der Fall, können sie, ebenso wie der Beschwerdeführer, bei den zuständigen Fachgerichten die Aussetzung bereits eingeleiteter Anfechtungsverfahren bis zu einer Neuregelung beantragen.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | BGB
§ 1600 Anfechtungsberechtigte
Hammermann in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023

Aufsatz:
Eckpunkte des Bundesministeriums der Justiz für eine Reform des Abstammungsrechts
Tobias Helms, FamRZ 2024, 489

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 09.04.2024 11:38
Quelle: BVerfG PM Nr. 35 vom 9.4.2024

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